Die Wirkung von roter Farbe

Wir haben fünf Menschen gefragt, was wir tun müssen, damit sie auf VelObserver Routen bewerten. Hier sind ihre Antworten – und eine deprimierende Einsicht. 

Fiona fühlt sich hier so gefährdet, dass sie vom Velo absteigt und es schiebt. (fxs)

(Dieser Beitrag wurde für VelObserver.ch verfasst.)

Die gute Nachricht zuerst. Unser Zielpublikum ist enorm gross. Vor gut einem Jahr haben 162'000 Zürich_innen Ja zur Velorouten-Initiative gestimmt – sie alle kommen theoretisch als Beitragende für VelObserver in Frage. Dazu kommen jene, die für die Initiative gestimmt hätten, wenn sie stimmberechtigt gewesen wären. Es ist denkbar, dass in Zürich eine Viertelmillion Menschen leben, die mit der heutigen Veloinfrastruktur nicht einverstanden sind und dies auch zum Ausdruck bringen würden, wenn es dafür eine geeignete Möglichkeit gäbe. 250'000 potentielle VelObserver — was für eine Chance. 

Die schlechte Nachricht: Es wird nicht reichen, mit den Fingern zu schnippen, um sie als Beitragende für VelObserver zu gewinnen. Es gibt diesen harten Kern der intrinsisch Motivierten, die sich aktiv für einen Paradigmenwechsel im Stadtverkehr engagieren. Sie sind vernetzt und erreichbar. Doch wir wollen auch die Stimmen jener, die nicht von sich aus aktiv werden. Jener, die seltener Velo fahren. Jener, die wir nicht via Social Media oder Newsletter erreichen können. In den vergangenen Tagen haben wir mit fünf Menschen ausserhalb unserer Filterblase über ihre Einstellung gegenüber Verkehr und Mobilität in der Stadt gesprochen und sie gefragt, was wir tun müssen, um sie zu VelObservern zu machen. 

Das haben wir gelernt

Der erste und wichtigste Befund ist ein alarmierender. Alle Teilnehmenden sagen: Das grösste Problem im städtischen Verkehr ist die Sicherheit. Nicht Stau, Parkplätze, Zeitverlust oder Stress. Und wenn die Teilnehmer von Sicherheit sprechen, meinen Sie nicht ein unspezifisches Unbehagen, sondern die ganz konkrete Möglichkeit, verletzt zu werden. Doch bevor wir weitermachen, lasst uns kurz die Teilnehmer_innen* vorstellen. 

  • Fiona, 21, Fachfrau Gesundheit, Zürich

  • Matthias, 52, Buchhalter, Zürich

  • Monica, 66, Erwachsenenbildnerin, Wettingen

  • Simonetta, Archäologin, Archivarin, 52, Zürich

  • Stefan, 56, Leiter eines multimedialen Archivs, Zürich

Fiona ist die Tochter von Stefan und Simonetta, sie besitzen ein Auto und benützen es auch, in der Stadt allerdings selten. Simonetta geht mit dem Tram zur Arbeit, Stefan fährt täglich Velo, doch einer bestimmten Schublade wie «Velofahrer» oder «ÖV-Fahrerin» fühlen sie sich nicht zugehörig. Monica hingegen versteht sich eindeutig als Velofahrerin. Sie hat kein Auto, macht die meisten ihrer Wege mit dem Velo und schrieb auch schon Briefe an die Stadt und Politiker, damit sie endlich etwas für Velofahrer_innen tun. Doch mit 66 Jahren sind ihr Online-Communities eher fremd – und damit auch Plattformen, wie es VelObserver eine sein wird. Matthias besitzt sechs Velos und hätte gerne noch ein paar mehr, aber Velo fahren ist für ihn ein Sport und keine verkehrspolitische Ideologie. Er besitzt ein VW-Bus und will keinesfalls als «Velofundi» angesehen werden. Man kann durchaus sagen: VelObserver ist ihm deshalb ein wenig suspekt.

Wir stellten allen fünf dieselben 13 Fragen und liessen offene Antworten zu. Klar, ihre Antworten erlauben keine repräsentative Analyse, aber ein Reality-Check unserer Hypothesen. Die Interviews geben uns einen Einblick in die Einstellungen von Individuen und ein Schlaglicht auf unsere blinden Flecken. 

Wo sie sich einig sind

Zunächst suchten wir nach Übereinstimmung in ihren Antworten. Alle fünf Interviewpartner_innen sind sich einig, dass der Handlungsbedarf im Stadtverkehr nicht nur gross ist, sondern auch dringend. Sie beurteilen Infrastruktur und die allgemeine Verkehrssituation als ungenügend, vier sagen explizit, dass Fussgänger_innen, Velofahrer_innen, ÖV und der motorisierter Individualverkehr auf separate Trassen gehören und dass diese Entflechtung der Schlüssel zu mehr Verkehrssicherheit ist. Sie wären grundsätzlich bereit, einen Beitrag zur Verbesserung der Veloinfrastruktur zu leisten – etwa, in dem sie auf VelObserver Routen bewerten. So weit, so erfreulich. 

Allzu hoch dürfen die Hürden vermutlich nicht sein. Würden sie auch einen Umweg fahren, um eine neue Route zu bewerten? Ausnahmsweise, bei schönem Wetter. Würden sie an Social Rides teilnehmen, um neue Routen zu kennenzulernen? Nur eine Minderheit. 

Doch eine Voraussetzung für eine Teilnahme an VelObserver ist, dass ihr Beitrag auch einen Impact erzielt. Am grössten ist die Erwartung, dass die Stadt mangelhafte Abschnitte korrigiert und die Resultate von VelObserver in der künftigen Planung berücksichtigt. Wir verstehen das als Auftrag.  

Wo sie sich nicht einig sind

Nicht einig sind sich die Teilnehmer_innen über die Methoden der Nutzerbindung. Braucht VelObserver Ranglisten mit den aktivsten Usern? Die Möglichkeit, auf Ratings anderer Benutzer_innen zu reagieren? Challenges und spielerische Anreize? Cool, sagen Fiona und Matthias. Völlig irrelevant, sagen die anderen. Brauchen die User einen Schubs oder gar einen konkreten Auftrag, eine bestimmte Route zu bewerten? Unbedingt, sagt Stefan. Keine Bevormundung, sagt Matthias. Ist es wichtig, dass die Medien über VelObserver berichten? Nicht nur wichtig, sondern zwingend, sagen Monica und Matthias. Medien? Die repräsentieren mich schon lange nicht mehr, sagen Fiona, Simonetta und Stefan. 

Diese Meinungsverschiedenheiten sind nicht schlecht, im Gegenteil. Sie zeigen uns, dass wir unterschiedliche Methoden in Betracht ziehen können, sie aber auf ein bestimmtes Publikum ausrichten müssen. 

Und was wirklich wichtig ist

Kommen wir nun zum Befund, mit dem wir begonnen haben: Für alle fünf Teilnehmer_innen ist das grösste Problem im städtischen Verkehr ist die Sicherheit. Das klingt zunächst wie ein Allgemeinplatz, aber im Gespräch zeigt sich, dass das für einige einschneidender ist, als wir uns das bewusst waren. Monica erzählt spontan von mehreren Verkehrssituationen, in denen sie sich einer konkreten Gefahr ausgesetzt sah: Autos, die sie mit wenigen Zentimetern eng überholen, drängeln und ihr den Weg abschneiden. Bei Simonetta ist das Gefühl der Angst so dominant, dass sie nur dann aufs Velo steigt, wenn sie weiss, dass sie auf einer autofreien Strecke fahren kann. Für Fiona gehört es zum Velofahren, aus Angst vor Unfällen Umwege zu fahren und vom Velo abzusteigen und es zu schieben. Sie meidet prinzipiell Radstreifen in Mittellage, weil sie weiss, dass ihr Autos und Lastwagen auf beiden Seiten so nahe kommen können, dass sie ihnen völlig ausgeliefert ist. 

Fiona ist 21 Jahre alt, klug, fröhlich und gesund. Sie ist nicht in der Lage, auf den Velostreifen zu fahren, welche die Stadt für sie zur Verfügung stellt. Nicht, weil es unangenehm wäre oder sie sich ein aufgeschlagenes Knie holen könnte, sondern weil sie sich konkret davor fürchtet, verletzt oder getötet zu werden. So, wie 606 andere im letzten Jahr**. Ihre Angst behält sie normalerweise für sich – sie will nicht, dass ihr jemand sagt, sie sei ängstlich, sie übertreibe oder sie solle Küchen meiden, wenn sie ein Problem mit Hitze habe. 

Ob Fiona morgen mit dem Velo zur Arbeit führt, hängt davon ab, wie dominant dieses Gefühl der Ohnmacht ist. 

Für uns heisst das: Die Breite in Zentimetern ist wichtig, die Höhe von Versätzen, die Signalisierung und die technischen Normen auch. Aber wirklich entscheidend ist, welche Wirkung die Fahrradinfrastruktur auf die Menschen hat. Die roten Streifen zwischen zwei Autospuren sollten den Velofahrern Schutz bieten – und sie bewirken bei einigen – vielleicht bei vielen – das genaue Gegenteil.  


PS: Wenn Du unsere Interview-Fragen ebenfalls beantworten möchtest, schick uns ein Mail. Auch wenn Du alles ganz anders siehst als unsere fünf Interview-Teilnehmende und VelObserver kritisieren möchtest: schick uns erst recht ein Mail.  Und wenn Du VelObserver testen möchtest, dann melde Dich für unser Pretest-Panel an. Und wenn Du einfach auf dem Laufenden bleiben möchtest, dann abonniere unseren Newsletter

PPS: Ach ja, noch was. Wenn Du einen Tippfffehler findest, überlese ihn bitte grosszügig oder schick uns ein Mail – unser begrenztes Budget fliesst voll und ganz in VelObserver, ein Korrektorat leisten wir uns später einmal. 


Fussnoten

*Nicht alle Teilnehmer_innen wollten, dass ihr voller Name in einem Text im Internet veröffentlicht wird. Wir respektieren diesen Wunsch und haben ihre Identitäten anonymisiert.  

** Laut der Verkehrsunfallstatistik der Stadt Zürich sind 2020 sind in Zürich 771 Verkehrsunfälle gemeldet worden, ab mindestens ein Velo- oder E-Bikefahrer_in beteiligt war. 606 Velofahrende wurden dabei verletzt und 4 getötet. Mehr als die Hälfte aller schwer Verletzten und 80 Prozent aller Verkehrstoten waren Velofahrende. 

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